Mit der Herrschaft Kubilai Khans hatte die yon mchod
Beziehung noch nicht ihre endgültige Form erreicht. Obwohl dieses Konzept die Grundlage der späteren Staatsideologie Altan Khans darstellt, war zu diesem Zeitpunkt noch keine Kontinuität der Partnerschaft
gewährleistet, welche über den Tod 'Phags-pas und Kubilai Khans hinausreichte. Nach 'Phags-pa waren der Abt der Sa skya pa
und der »Kaiserliche Lehrer« zwei verschiedene Person, weshalb der Abt nicht gleichzeitig den säkularen Herrscher von Zentraltibet darstellte. Dies führte dazu, dass es in Tibet nach dem Tod 'Phags-pas zum Ende der Vorherrschaft der Sa skya pa
kam.
Geschichtlicher Hintergrund
Als im Jahr 1368 die Yuan 元-Dynastie zusammenbrach, folgte auf sie die han-chinesische Ming 明-Dynastie (1368-1644). Die Mongolen zogen sich zurück, in das Gebiet des alten Zentralkhanats. Die mongolische Geschichte vom späten 14. bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war von internen Kämpfen
und vor allem von Kriegen der Ostmongolen insbesondere gegen die westmongolischen Oiraten geprägt, denen es gelang, im 15. Jahrhundert ein eigenes Reich zu gründen.
Batu Möngke Dayan Khan (1460-1543?), einem Nachkommen Chinggis Khans, gelang es zwar einige mongolische Gemeinschaften zu einigen, dies führte jedoch nicht zu einer dauerhaften Zentralgewalt. Nach seinem Tod wurde sein Herrschaftsgebiet in 6 myriaden
(Tümen), welche in einen linken und einen rechten Flügel unterteilt waren, aufgeteilt. Während der linke, östliche Flügel unter der direkten Herrschaft durch Großkhan Bodi Alagh, einem Enkel Dayan Khans stand, stand der rechte Flügel unter der Verwaltung eines jinong
(Stellvertreter) aus der Linie von Dayan Khans drittem Sohn Barsu Bolud Sayin Alagh. Somit waren diese politischen Oberhäupter Mitglieder einer gesamtmongolischen Aristokratie und mit der Bevölkerung nicht in direkter Linie verwandt.
Die große Wertschätzung der Genealogie des Herrscherhauses
wird durch diese Verhältnisse besonders hervorgehoben. Die Zersplitterung in Patrimonialgebiete (ulus), welche die Position eines mongolischen Großkhans schwächte und zum Auf-stieg mächtiger regionaler Herrscher führte, sollte noch Jahrhunderte später Bestand haben. Ob diese Aufteilung der ostmongolischen Gesellschaft zur Schwächung oder zur Verstärkung der zentralisierten Macht der Dayaniden führte, darüber existieren verschiedene Ansichten.
An diesen Ereignissen verdeutlichen spezifische Probleme, mit welchen die mongolischen Gemeinschaften konfrontiert waren: besonders ihr Individualismus
erschwerte eine politische Einigung. Insofern war die persönliche Loyalität
der mongolischen Gesellschaft einem (Groß)Khan gegenüber, ausschlaggebend für politische Allianzen. Die individuelle Entscheidung für die Einhaltung dieser Loyalität war wesentlich von dem jeweiligen herrschaftspolitischen Charisma
des Khans und seines militärischen Erfolgs
bestimmt. Aus diesem Grund war die individuelle Beziehung zwischen Herrscher und Gefolgsleuten von besonderer Bedeutung. Eine zentrale Figur unter den Mongolen, in Bezug auf Herrschaftsloyalität und –stabilität, stellt Altan Khan der Tümed (1507-1582) dar. Dieser war ein Enkel Dayan Khans und zweiter Sohn Barsu Bolud Sayin Alaghs. Er führte als jinong
Befehl über die 12 Tümed als seinen ulus
und gehörte damit dem rechten Flügel der Mongolen an. Nach dem Tod seines Bruders Gün Bilig Mergen wurde Altan Khan
inoffizielles Oberhaupt des linken Flügels der Mongolen. Ihm gelang es die Oiraten zu unterwerfen und 1571 ein Friedensabkommen mit China zu schließen. Das Friedensabkommen ermöglichte ihm die Aufnahme von Tribut- und Handelsbeziehungen. Um 1560 gründete Altan Khan die Stadt Köke Khota.
Wie in seinen Beziehungen mit dem China der Ming-Dynastie, so nutzte Altan Khan auch gegen einzelne mongolische Völkerschaften, sowohl militärische Mittel als auch sein diplomatisches Geschick. Dieser Umstand brachte ihm militärische und politische Macht
ein.
Altan Khans Herrschaftskonzept
Das ideologische Konzept Altan Khans
Dass Altan Khan innerhalb der mongolischen Gemeinschaften an Macht gewann, spiegelt sich in seinem Titel als suu-tu
(Besitzer des Charismas)
wider. Auf diese Weise nimmt Altan Khans Person Bezug auf das Charisma eines legitimen Herrschers unter den Mongolen und seinen harmonisierenden Charakter innerhalb der mongolischen Gemeinschaften. Um seiner Herrschaft zusätzlich Stabilität und Dauerhaftigkeit zu vermittelt, griff Altan Khan auf einen weiteren Faktor zurück: den tibetischen Buddhismus und die Idee des Cakravartin-Weltherrschers.
Nach dem Verlust der mongolischen Herrschaft über China, hatte der Buddhismus unter den Mongolen weiter Bestand. Das Konzept, welches Altan Khans militärischen Aktionen ideologische Grundlage und politische Wirksamkeit verleihen sollte, beruhte auf dem Vorbild von Kubilai Khans und 'Phags-pas Cakravartin-Idee. Das alte Vorbild Kubilai Khans mit dem Bezug auf den Cakravartin-Herrscher wurde bei der Re-etablierung der yon mchod-Beziehung, durch den Bezug auf die 1407 gegründete dGe lugs pa, welcher Sönam Gyatso angehörte und aus welcher sich der Lamaismus etablierte, erweitert. Die Beziehung war nun nicht länger auf Altan Khan und seinen religiösen Lehrer, den Dalai Lama beschränkt, sondern konnte durch die Institution der Dalai Lamas auf die folgenden Generationen übertragen werden. Die Partnerschaft hatte sich von einer rein persönlichen, zu einer von zusätzlich institutionellem Charakter entwickelt.
Indikator für die Wiederaufnahme der Beziehung war Altan Khans Verwandter Qutu-ghtai Secen Qung Tayiji, welcher in seiner Weißen Geschichte das Konzept eines tibeto-mongolischen Idealstaates
etablierte. Auch Altan Khan hoffte nun, durch das Prestige eines lamaistischen Würdenträgers seine Machtposition festigen zu können.
Umgekehrt benötigten die Lamas nach wie vor die militärische Unterstützung eines weltlichen Herrschers. Da die die Sa skya pa
ihre Vorrangstellung längst verloren hatte und die Karma pa
mit den Ming-Kaisern in Verbindung stand, ging Altan Khan eine Verbindung mit der von
Tsong kha pa (1359-1419) neu entwickelten dG elugs pa
(Tugend-Schule) ein. Die dGe lugs pa, welche nach der Übernahme der politischen Macht in Tibet strebte, hatte eben-falls großes Interesse an einer Verbindung mit den Mongolen und somit der Gewinnung weltlicher Unterstützer. Des Weiteren suchten die dGe lugs pa
in den Mongolen äußeren Schutz aufgrund innerer Instabilität, das Privileg des Steuererlasses und die Befreiung vom Militärdienst.
Der Dalai Lama als Herrscher der religiösen Ordnung
1578 fand ein Treffen zwischen Altan Khan und dem Abt des dGe lugs pa-Klosters Drepung, Sönam Gyatso
(bSod nams rgya mtsho, 1543-1588), statt. Während dieses Treffens wurden dem Geistlichen durch Altan Khan die Ehrentitel »Dalai Lama«
(ozeangleicher spiritueller Meister) sowie »Dorje Chang«
(Halter des Diamantzepters) verliehen. Die beiden Vorgängerinkarnationen des Sönam Gyatso, welche beide Nachfolger des Tsong kha pa waren, erhielten ihre Titel posthum. Ein Dalai Lama ist die Inkarnation des transzendenten Bodhisattva Avalokiteshvara.
Das Konzept der Reinkarnation gründet auf der tulku-Vorstellung eines »Erscheinungskörpers« (Buddha oder Bodhisattva), welcher sich in einem Kind manifestiert. Unter dem Ausdruck tulku
versteht man auch die yangsi
(Wiedergeburt) eines Lamas. Diese Wiedergeburt erbt den persönlichen Besitz, das Amt und den Status seines Vorgängers. In der Linie der Dalai Lamas spiegelt sich die Verbindung in Form der Emanation des Bodhisattva Avalokiteshvara und der Wiedergeburt des vorherigen Dalai Lamas wider.
Altan Khan als »Raddreher Religionskönig«
Im Gegenzug wurde Altan Khan von Sönam Gyatso als »Cakravartin
Sechen Khan«, als Verteidiger des Glaubens, angeredet. Dies ist eine Ehrenbezeichnung, welche auf dessen Rolle als weltlichen Schutzherrn über die Mönchs- und Laiengemeinschaft verweist. Altan Khans neuer Titel Cakravartin Dharmarāja
»Raddreher Religionskönig«, deklarierte ihn als Reinkarnation Kubilais und als buddhistischen Weltherrscher. Mit dem Titel Dharmarāja
implizierte Altan Khan den Herrscher über das universale Gesetz.
Damit war die Re-etablierung der tibeto-mongolischen yon mchod-Beziehung als Regierungsmodell und politisch-religiöse Allianz zwischen Staat und Religion eingeleitet. Durch dieses Regierungsmodell der Lehre von den zwei Ordnungen, wurde Tibet wieder zur Referenzgesellschaft für ein Herrschaftskonzept, welches primär inneren Frieden suggerierte. Dieses Regierungsmodell lässt sich ebenfalls mit der autochthonen mongolischen Vorstellung des »Ewigen Himmels« vereinbaren.
Die Beziehung zur dGe lugs pa
war für Altan Khan in erster Linie von politischer Bedeutung, ähnlich wie für Kubilai Khan in seiner Beziehung zu 'Phags-pa. Die Re-etablierung der yon mchod-Beziehung war wahrscheinlich nicht primär auf die Bekehrung der mongolischen Gesellschaft zum Lamaismus ausgelegt.